Samstag, 14. März 2015

André Skora / Armin Rößler / Frank Hebben (Hrsg.) : Tiefraumphasen



André Skora / Armin Rößler / Frank Hebben (Hrsg.) : Tiefraumphasen
Originalzusammenstellung
Begedia 2014
Taschenbuch, 261 Seiten, 13,50 €


Ein dreckiger, toter Kosmos – Maschinenmenschen steuern Frachtschiffe im Methanregen; die dunkle Seite des Alls. Wir sind allein. Kolonisierte Planeten, von Konzernen ausgebeutet: Der Traum von den unendlichen Weiten hat sich nicht erfüllt.

Abgrundtiefe Schwärze, überall. Alles strebt nach Glück und scheitert. Oder gibt es Hoffnungsschimmer? Finden die tragischen Helden ihren Frieden in der ewigen Stille oder ist am Ende nur der Tod?
Klappentext


Der Begedia-Verlag tritt offenbar in die Fußstapfen von Wurdack und bringt pro Jahr (mindestens) eine Anthologie ausgesuchter Kurzgeschichten heraus. Es lohnt, sich diesen Jahresband anzuschaffen (mehr als gewisse Ziegelsteine gewisser Großkonzerne aus dem Verlagswesen) und in die Visionen deutscher SF-Autoren und Illustratoren einzutauchen.

Das Vorwort ist von Michael K. Iwoleit, der auf zwei Seiten Herkunft, Entwicklung und aktuellen Stand des Cyberpunk formuliert und damit in die Anthologie einführt. Sehr dicht, sehr präzise, sehr elegant, sehr informativ geschrieben, ich habe ernsthaft überlegt, dieses Vorwort für den DSFP zu nominieren. Vielleicht sollte der Herr Iwoleit sich mehr Zeit für eigene primär- und/oder sekundärliterarische Texte nehmen als solche Vorworte zu verfassen, denn in dem Stil hätte ich gerne einen Ziegelstein gelesen. Auf jeden Fall motiviert das Vorwort und lässt mich als Leser begierig die ersten Geschichten verschlingen.

Karla Schmidt : Dämmerzone
Das Erkundungsteam einer Corporation wird abgeschossen, als es einen sonnennahen Asteroiden untersuchen will. Somma, die Protagonistin, kann entkommen und verscht, mit einem Bodenfahrzeug auf der Nachtseite zu bleiben ...
Sehr stimmungsvoll, wirklich schön geschrieben, selbst wenn der Plot sich als relativ trivial rausstellt. Aber das Setting und die zum Leser transportierte Gedankenwelt der Heldin lassen eigentlich gar keine komplexere Handlung zu. Insgesamt ein gelungener Einstieg.

Torsten Exter : Soulsave
Buster und Fay – tja, die haben aus irgendeinem Grund irgendetwas. Mir ist nicht ganz klar, wer hier der Böse ist, ob Fay von ihrem Vater vergewaltigt wurde und was das Ganze überhaupt soll. Hier fehlt ein präziseres Lektorat, denn so gewaltig, wie die Geschichte bereits in dieser Form rüberkommt, hätte mit etwas mehr Mühe ein Meisterwerk daraus werden können. Schade drum.

Thorsten Küper : Der Hummer vor den Toren
Durch menschenunwürdige Gesetze werden immer mehr Menschen zu Versuchstieren und bionischen Halblebewesen. Doch eines dieser Wesen wehrt sich und erledigt die Konzernbosse, die sich auf einem Asteroiden ein schönes Leben machen. Allerdings war das von eben diesen Leuten geplant ...
Geiles Setting, mitreißende Geschichte, toller Plot - der plötzlich abreißt. Kein vernünftiges Ende, vollkommen abrupt bricht diese Geschichte ab. Das ist ehrlich gesagt ziemlich nervig, denn ansonsten hat das Ding alle Anlagen zu einem wirklich gelungenem Roman, einer prima Novelle oder einer tollen Kurzgeschichte. Dieser Abbruch - etwa so, als würde man bei einer Gaußschen Glockenkurve kurz hinter dem Scheitelpunkt plötzlich aufhören - macht alles kaputt und lässt den Leser frustriert und etwas ratlos zurück. Dabei hat gerade dieser Robin-Hood-Ansatz, den Küper hier als auch im "Mechaniker" verfolgt, echtes Potential. Aber so ist das nichts Halbes und nichts Ganzes, wirklich schade drum.

Christian Günther : Im ewigem Eis
Nolan hat eine Medaille bekommen. Weil er ein havariertes Schiff gerettet hat. Doch die Menschen darin konnte er nicht retten ...
Schön erzählt, aber inhaltlich bis zu einem gewissem Grad Standard. Macht aber nix, auch solche Standardgeschichten lese ich gerne immer wieder, sie haben schon ihren ganz eigenen Charme.

Jakob Schmidt : Extremophile Morphologie
In der Zukunft kann man sich in neue Körper versetzen lassen - die beliebig irgendwelchen Umgebungen und beliebig perversen Wünschen angepasst sein können. In dieser Zeit sucht Tobi einen neuen Körper für seine vor ein paar Jahren ertrunkenen Freundin.
Obwohl die Geschichte gut ist, vor intelligenten Ideen nur so sprudelt und auch vom Ablauf ebenso wie von der Auflösung gelungen ist, werde ich mit ihr nicht warm. Wahrscheinlich das Lethal Weapon-Syndrom. In jedem Fall mein rein persönliches Empfinden, ich rate jedem, diese Story selbst zu beurteilen.

Eva Strasser : Knox
Knox ist ein körperlich und geistig behinderter Jugendlicher, der in eine Erde, auf der man nicht mehr leben kann, hineingeboren wird. Nur auf die Erde umkreisenden Habitaten ist noch halbwegs normales Leben möglich - es sei denn, man ist reich, dann hat man auch jetzt keine Probleme. Nicht so Reiche werden rein ökonomisch betrachtet, die Gesellschaft selbst ist komplett egoistisch. Doch als man Knox' Freundin umbringt, revanchiert er sich an allen und jedem, die ihm einmal etwas getan haben.
Fängt langsam an, ist fast vollständig nicht-linear erzählt, steigert sich zum Ende in Richtung Meisterwerk. Sollte man unbedingt gelesen haben, das ist moderne deutsche SF, die auch in zwanzig Jahren noch up to date ist. Insbesondere daß Eva Strasser es schafft, alles aus der Perspektive von Knox zu schreiben, hat mir ausnehmend gut gefallen. Ebenso wie die Darstellung einer Ellenbogengesellschaft, wie sie direkt aus dem Heute entstehen könnte. Insgesamt eine runde Story.

Armin Rößler : El Dorado
Piraten im Weltraum.
Ebenso wie die Geschichte von Christian Günther ist auch dies Standard, und ebenso wie ich oben bereits schrieb, habe ich auch diesen Standard genossen.

Jan-Tobias Kitzel : Erdenglück
"Irgendwer fickte immer irgendwen" - und in diesem Fall machte ein Korporationsraumschiff aus zwei anderen Weltraummüll, weil es die eigenen Chefs so wollen. Obwohl man sich kannte und nahestand ...
Eine sehr bitterböse Geschichte, in der der Autor brutal und deutlich die Dummheit und Brutalität von Unternehmen und ihren emotional verkrüppelten Angestellten deutlich zutage bringt. Vielleicht etwas zu plakativ, aber manchmal braucht man ja so etwas. Ich fand die Story sehr gelungen, für viele heutige Konzerndrohnen dürfte sie aber zu hart sein.

Karsten Kruschel : Echo und Schatten
Eine Augentransplantation mit halbbiologischen Augen macht aus Echo einen neuen Menschen ...
Sehr schön erzählt, das Ende prima auf den Punkt gebracht. Die dystopische Erde, die Karsten Kruschel schildert, ist alleine schon düster genug, das Schicksal von Echo dann noch sozusagen das Tüpfelchen auf dem i. Unbedingt lesenswert.

Peter Hohmann : Nichts
Wenn man keine Rücksicht auf seine Arbeiter und deren Familien nimmt, darf man sich als Konzernmanager auch nicht wundern, wenn man umgebracht wird. "Nichts" schildert als Wodunit die Flucht eines Menschen, der aus Rache für den Tod seiner Familie die gesamte Konzernspitze in die Luft gesprengt hat. Und am Ende liegt die Freiheit irgendwo da Draußen, im Nichts ...
Ein schönes Kammerspiel, das auch die Illusion der Konzerndrohnen präzise auf den Punkt bringt. Hat mir gut gefallen, auch weil der Autor sich Zeit nimmt, die eigentliche Geschichte zu entwickeln.

Sven Klöpping : Kill me, Motherfuckers!
Kolban ist ein Mensch, der auf einem Planeten voller Androiden und Roboter eingesetzt wird, um sie zu besseren Kampfmaschinen zu machen. Doch ist er wirklich ein Mensch ... ?
Eine für Sven Klöpping eher ruhige Geschichte, die den Irrsinn und die Absurdität von Tierexperimenten deutlich macht. Lesenswert.

Andreas Winterer : Ein Schiff wird kommen
Eine Weltraumprostituierte steigt aus und schliesst sich einem Matrix-Schiff der New Vatican, Inc. an.
Andreas Winterer legt hier vollkommen gegen den Trend eine zutiefst pro-religiöse Geschichte vor und zeigt auf, daß die nicht-religiöse Realität wesentlich schlimmer als ein religiöses Idealbild ist, sei letzteres auch noch so von Doktrinen durchzogen. Lohnt sich!

Niklas Peinecke : Manchmal enthalten sie Sirenen
Jahrtausende in der Zukunft : Die Menschheit hat sich im All ausgebreitet, jedoch nicht in der humanen Form, sondern ist zu Weltraumwesen mutiert. Eines davon, Tos 0277, driftet im Sonnensystem, als er einen Weltraumwal entdeckt. Dieser könnte ihm dringend benötigte Energiereserven bringen - doch ist er wirklich leer ?
Ein schöner Ausklang der Anthologie. Die Geschichte erinnert mich an diverse Stories des Golden Age, als Menschen ans "Ende der Zeit" reisten. Niklas Peinecke schreibt hier sehr melancholisch, doch trotz alledem nicht dystopisch. Hat mir ausnehmend gut gefallen.

Fazit : Es muß nicht immer Kaviar sein. Manchmal ist auch ein gutes Rib-Eye-Steak das Richtige. Und etwa so habe ich die Geschichten aus "Tiefraumphasen" genossen. Deutsche SF der oberen Qualitätsstufe, eine Anthologie, um die man nicht herumkommt, wenn man sich für deutsche SF interessiert. Und auch hier habe ich noch nichts zu den durch die Bank weg gelungenen Innenillustrationen gesagt, die diese Anthologie auflockern. Einfach nur gelungen, dieses Buch. Muss man haben.

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