Montag, 19. Dezember 2011

Karla Schmidt (Hrsg.) : Hinterland


Karla Schmidt (Hrsg.) : Hinterland
Wurdack-Verlag 2010

Was passiert, wenn eine Gruppe von Autorinnen und Autoren sich von der Musik eines Ausnahmekünstlers wie David Bowie inspirieren lässt?
Die Forschungsreisenden dringen mit umfangreicher Ausrüstung (Musikanlage, Monsterboxen, an die dreißig Alben) in das seltsame, oft fremdartige HINTERLAND von Bowies Schaffen vor.
Dort stoßen Sie auf Levitationsprobleme, leere Drachen, traurige Spaceguns, philosophierende Elitesoldaten, sprechende Telefonzellen, schwule Roboter, romantische Ninjas, jeweils leuchtende: blaue Fische, rote Schuhe, weiße DNA-Suppe, Zeitverschiebungen, Paralleltrips, internationale Erlösung, interstellare Versicherungen, eine Glühbirnenmanufaktur, Leichenkunst, verpilzte Zombies, Flammenwerferkatharsis, übermäßig hungrige Kinder und die endgültige Lösung sowohl des Hunger- als auch des Müllproblems.
HINTERLAND - 20 Science Fiction Erzählungen, inspiriert von der Musik David Bowies.
(Klappentext)

Neben seiner normalen SF-Storysammlung "Die Audienz" erschien dieses Jahr im Wurdack-Verlag "Rache!", die besten Geschichten der Storyolympiade 2009/2010, und "Hinterland", Stories inspiriert von David Bowie. Nicht nur dominiert der Verlag damit die SF-Storyszene 2010, die Qualität aller dieser Anthologien ist auch ein beeindruckendes Beispiel für das hohe Niveau des künstlerischen Anspruchs deutscher zeitgenössischer Autoren. Gerade in der Themenanthologie "Hinterland", die sich mehr der allgemeinen Phantastik und weniger "nur" der SF verschrieben hat, kommt dieser künstlerische Anspruch eindrucksvoll zum Tragen.

Wobei ich selbst so meine Vorbehalte gegen "Hinterland" hatte. Ich bin kein Fan von David Bowie, seine Musik habe ich in den vergangenen Jahrzehnten allenfalls nebenbei wahrgenommen. Mit Ausnahme von "Labyrinth", den Film (und Bowies Auftritt als auch seine Musik darin) habe ich genossen. Mich interessierten die Stories an sich, nostalgische Gefühle im Hinblick auf die zugrunde liegenden Musikstücke habe ich nicht und so stellte sich mir schon die Frage, ob man auch als Nicht-Bowie-Fan diese Stories lesen kann. Um die Antwort vorwegzunehmen : Man kann und sollte ! Die Musik dazu ist nicht unbedingt nötig, wenn sie auch das Feeling verstärken dürfte. Für die Musikliebhaber haben bibo Loebnau und Karla Schmidt auf der Website zum Buch die einzelnen Musikstücke als Youtube-Videos hinterlegt. Ich habe mir die Stories ohne diesen Background angehört, Bowies Musikstil ist nicht mein Geschmack. Dies hält aber nicht davon ab, die Geschichten zu genießen. Die Kommentare im Einzelnen :

01: Dirk Röse: Purgatorium
inspiriert durch "All the madmen"
Das jüngste Gericht ist gewesen, einige Menschen haben es verpasst und leben auf einer Erde mit negativer Gravitation.
Langweilige Geschichte mit uninteressant agierenden Protagonisten. Hier wurde eine nette Idee verschenkt.

02: Dietmar Dath: Solus Ipse, leerer Drache
inspiriert durch "Fill your heart"
Eine Geschichte über Solipsismus und Solipsisten.
Brilliant. In kurzen prägnanten Szenen stellt DD aus der Sicht einer nicht-existierenden Figur den Therapieerfolg von fünf auf sich selbst fixierten Menschen dar. Witzigerweise mit einer hochgradig dynamischen Action-Komponente, ohne daß tatsächlich irgendetwas passiert. Ein erstes Highlight dieser Anthologie!

03: Jasper Nicolaisen: Kleines Mädchen aus China
inspiriert durch "China Girl"
Ich habe keine Ahnung, was diese Geschichte aussagen soll. Die Story besteht nur aus wirr aneinandergereihten Schilderungen des Gefühlslebens des Protagonisten. Ein derartiger Stil war vor 30 Jahren en vogue und ich fand ihn schon damals suboptimal. Für Fans dieser Stilrichtung muß man allerdings konstatieren, daß die Story flüssig geschrieben ist und sich gut lesen lässt.

04: Jakob Schmidt: Die betrübte Strahlenkanone
inspiriert durch "Running Gun Blues"
Die KI-gestützte Strahlenkanone eines Superhelden wird vom Superschurken geklaut. Das Zurückholen gestaltet sich schwierig.
Witzige Idee, nett erzählt. Die Perpektive der intelligenten Strahlenkanone beshreibt Jakob Schmidt launig und humorvoll. Der letzte Pep fehlt dieser Story allerdings.

05: Anna Janas: Life on Earth?
inspiriert durch "Life on Mars?"
Zwei marsianische Roboter fliehen aus der rigiden Roboterzivilisation auf ihren angeblichen Ursprungsplaneten, die Erde.
Schon die Namen der Roboter deuten auf die Gewichtigkeit der Story hin : Kassandra 2877425z, Moses12576FF3, Byron348x556. Plot und Setting folgen dieser Gewichtigkeit, in jedem Satz weist die Autorin auf die Bedeutung ihrer Story hin. Schade nur, daß Plot, Setting und Nomenklatur seit einem Dreivierteljahrhundert überholt sind, die Story ist altbekannt und einfach nur langweilig. Etwas weniger Bedeutsamkeit und etwas mehr echter Humor wäre besser gewesen. Auch etwas Postsche Chaotik hätte durchaus zur Verbesserung beigetragen.

06: Pepe Metropolis: Hinterland
inpiriert durch "Red Sails" / "Lodger" A-Seite
Ein Forscher und sein Assistent auf den Spuren eines Kollegen, der im Südpazifik verschollen ist.
Eine klassische phantastische Geschichte aus dem vorletztem Jahrhundert. Gewillt sie nicht zu mögen (gerade mit diesem Plot wurde ich im letzten Jahrhundert mehrfach gelangweilt) zog mich die Story von Pepe Metropolis bereits nach den ersten Absätzen in ihren Bann. Vielleicht kein Meilenstein der modernen Phantastik, aber doch eine gelungene Adaption eines Klassikers an die Moderne. Mir persönlich hat sie besonders gut gefallen.

07: bibo Loebnau: Tief-Blau
inspiriert durch "Sound and Vision"
Die USA sind verarmt und zu einem religiösem Unterdrückungsstaat geworden. Die freie Welt wird von Indien aus regiert. Doch die Staaten wehren sich und versuchen, die freie Welt zu vernichten, damit sie wieder ihren angestammten Platz in der Hierarchie der Staaten bekommen.
Das ist der Hintergrund, vor dem bibo Loebnau eine spannende Kriminalgeschichte erzählt. Der Leser erhält diese Informationen erst nach und nach im Verlauf der Story, im Gegensatz zu anderen deutschen Romanen der letzten Zeit gelingt es der Bremer Autorin, die obige herbe Gesellschaftskritik ohne erhobenen hochmoralischen Zeigefinger zum Leser zu transportieren. Zusammen mit der interessanten Grundidee des Plots und der Dynamik der Story ist "Tief-Blau" für mich das dritte Highlight dieser Anthologie.

08: Barbara Streun: On Idle
inspiriert durch "Time" / "Saviour Machine" / "Heathen"
Eine klassische Zeitreise-Geschichte, inklusive Paradoxon. Nichts Neues unter der Sonne, aber nett und spanend erzählt. Vielleicht aufgrund der altbackenen Geschichte kein Highlight, aber qualitativ sehr wohl im oberen Drittel anzusiedeln.

09: Ernst-Eberhard Manski: Der Saxophonist vom Rathaus Neukölln
inspiriert durch "Warszawa" / "Neuköln"
Nach einer fünfjährigen Forschungsreise kommt der Erzähler zurück nach Hause und findet seine Wohnung in Neukölln durch einen Raumschiffabsturz verwüstet vor. So wie auch der ganze Stadtteil dadurch demoliert wurde. Der herbeieilende Versicherungsvertreter erzählt ihm, er habe nur auf ihn und seine Unterschrift gewartet, um Entschädigungen auszahlen und den Stadtteil wieder aufbauen zu können. Gesprächsweise erzählt er David Bowie und Brian Eno für ein Konzert angagiert zu haben, daß "in der Ecke des Universums, in dem diese Zeitanomalien herrschen", stattgefunden hat. So entstanden "Neuköln" und "Warszawa"
Eine leise, actionlose Geschichte, in der Ernst-Eberhard Manski über die Entstehung zweier Songs in einem Paralleluniversum phantasiert. Die Story funktioniert nur über das Feeling, daß der Autor meisterhaft zum Leser transportiert. Ein weiteres Highlight dieser Anthologie.

10: Karla Schmidt: Erlösungsdeadline
inspiriert durch "Five years" / "Joe the Lion" / "Looking for water"
Auf der Suche nach seiner verschwundenen Enkelin büxt ein alter Mann aus dem Altersheim aus. Er stirbt.
Wie schon in "Lebenslichter" (siehe "Die Audienz") spielt auch hier eine Brille, mit der man Gefühlszustände von Menschen sichtbar machen kann, eine wesentliche Rolle. Und wieder wird der Leser in ein gnadenloses Deutschland der näheren Zukunft entführt, daß Karla Schmidt brilliant aus der Jetztzeit extrapoliert hat. Bemerkenswert dabei die geschilderte Kälte der Umwelt und Gesellschaft, ebenso bemerkenswert der geschilderte Widerstand einiger Aufrechter.
Ebenso wie bei "Lebenslichter" sind auch hier die Details liebevoll ausgearbeitet. Es hat keine große Revolution stattgefunden, Tauschringe ebenso wie lokale Währungen ("Lexitaler") existieren noch. iPhone und Krankenkassenkarte sind zur Personal Management Card PMC verschmolzen. Zusammen mit der unprätentiösen Geschichte macht dies die Story zu Social Fiction, wie sie sein sollte, für jeden SF-Fan ein unbedingtes Muß. Ein brilliantes Highlight, meiner Meinung nach nicht nur die beste Story dieser Anthologie, sondern auch eines der besten Stücke deutscher SF der letzten Jahre.

11: Wulf Dorn: Jenseits der Mauer
inspiriert durch "Leon (takes us Outside)" / "Outside"
Die Umweltverschmutzung hat angeblich das Leben außerhalb der Stadt unmöglich gemacht. Leon versucht die Mauer, die die Stadt angeblich zum Schutz der Bewoher umgibt, zu durchbrechen.
Eine klassische Story mit vorhersehbarem Ende. Jedoch einfühlsam erzählt, man leidet mit dem Protagonisten mit. Kein Highlight, aber ausnehmend gut.

12: Karsten Kruschel: Fünfte und Vierte Sinfonie oder: Müllerbrot
inspiriert durch Glass / Bowie / Eno: "Heroes Symphony" / "Low Symphony"
Herbert Schleitheißen-Müller hat eine Lösung für das Überbevölkerungsproblem von mangelnder Nahrung gefunden – die Realisierung von "Soylent Green".
Keine neue Geschichte, sondern Harry Harrisons "Make Room! Make Room!" von 1966 (deutsche Erstausgabe 1969) auf das Deutschland des Jahres 2010 übertragen. Karsten Kruschel trifft brilliant den bürokratisch-gelangweilten Ton und zeigt mit dieser Story, daß auch eine 40 Jahre alte, aufgewärmte Geschichte noch Spaß machen kann. Lesenswert !

13: Nadine Boos: Kamera(d), Action!
inspiriert durch "The Man who sold the World"
Ein Soldat der Zukunft torpediert (im wahrsten Sinne des Wortes) ein Abkommen zwischen der Volksrepublik Deutschland und den KI-Vereinigten Staaten.
Sehr schöne dystopische Extrapolation gänzlich unterschiedlicher technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen von zwei heute noch sehr ähnlichen Staaten.

14: Markolf Hoffmann: Triptychon
inspiriert durch "Hearts filthy Lesson"
Verbrechen sind legitim im England der Zukunft – solange sie nur künstlerisch wertvoll ausgeführt werden.
Im Stil der Schwarzen Serie ausgeführt erzählt Markolf Hoffmann eine bitterböse Geschichte. Schwarzer Humor trifft dies nicht mehr, ich hatte den Eindruck einer echten Horror-Story. Meiner persönlichen Meinung nach ein lesenswertes Highlight dieser Anthologie, allerdings nur Lesern mit starken Nerven zu empfehlen.

15: Aleksandr Voinov: Nicht Amerika
inspiriert durch "This is not America"
Ein Pilz infiziert Menschen und verwandelt sie in geistlose Automaten.
Standard-Zombie-Geschichte, nicht allzu aufgregend, es fehlt der Funken Inspiration.

16: Tobias Bachmann: Die letzte Telefonzelle
inspiriert durch "No one calls"
Auf der Suche nach dem Verräter in seiner Organisation entlarvt ein Geheimagent sich selbst. Dabei hilft ihm eine intelligent gewordene Telefonzelle.
Ein faszinierendes Spiel mit Geheimnissen, die Geheimnisse verstecken um Geheimnisse zu schützen. Tobias Bachmann versteht es meisterhaft, den Leser an der Nase herumzuführen. Dabei zeichnet sich diese Geschichte zusätzlich durch die absurde Idee der letzten Telefonzelle auf der Welt aus, die, intelligent geworden, sich vor den Abwrackern der Telefongesellschaft zu verstecken versucht. Ich habe diese Story genossen und kann sie nur jedem Phantastik-Fan empfehlen.

17: Tobias Lagemann: P.O.S
inspiriert durch "Putting out Fire (with Gasoline)"
Soldaten der Zukunft halten den Streß des Krieges nur eine gewisse Zeit aus, bevor sie wahnsinnig werden.
Die modellhaftige Beschreibung der Gegend zusammen mit der Auflösung einer computersimulierten Streßtest-Situation lässt diese Story zu einer allgemeingültigen Antikriegsgeschichte werden. Dies wird durch den Military SF – Stil noch hervorgehoben. Lesenswert !

18: Valerie Kreifelts: Der Anfänger
inspiriert durch "Absolute Beginners"
Ein Ninja infiltriert eine westliche Attentäter-Einheit.
Obwohl gut geschrieben bin ich mit dieser Story nicht richtig warm geworden.

19: Dirk C. Fleck: Schneider ist raus
inspiriert durch "V2-Schneider"
Malin fährt im Zug und hört dabei die Erinnerungen Schneiders, eines SS-Offiziers, auf seinem Discman.
Romanfragment mit einem altbackenem Thema, keine Kurzgeschichte.

20: Siegfried Langer: Berlin, Nachklang
inspiriert durch "Let´s dance"
Eine WG erlebt den Tod Bowies.
Lyrischer Ausklang der Anthologie.

Fazit : Insgesamt eine sehr empfehlenswerte Anthologie. Wenn auch die Qualität sehr unterschiedlich ist und ich einige Ausfälle verzeichnet habe, sind die Geschichten doch insgesamt auf einem sehr hohem Niveau, so daß sich "Hinterland" nicht vor der "Audienz", die von dem eingespieltem Lektorenteam Jänchen/Rößler herausgegeben wurde, verstecken muß. Der Verzicht auf die Beschränkung auf reine SF und die Ausweitung der Stories auf den Bereich der allgemeinen Phantastik bot hier die Möglichkeit, auch "andere" Stories unterzubringen. Dadurch konkurrieren beide Anthologien auch nicht, sondern ergänzen einander. Mir hat diese Themenanthologie auch und gerade als Kontrastprogramm ganz besonders gut gefallen. Wesentlich dazu beigetragen hat auch der "redaktionelle" Teil am Anfang, in dem die Autoren den Hintergrund ihrer Geschichte erläutern. "Was will uns der Autor damit sagen ?" erhält hier eine Dimension, die man nur jedem Deutschlehrer empfehlen kann.
Wie man auch den bisherigen Bemerkungen entnehmen kann, hat mich dieses neue Produkt aus dem Wurdack-Verlag überzeugt. Themenanthologien als Kontrapunkt zu allgemeinen SF-Storysammlungen schließen eine Lücke, von der ich vorher nicht einmal wusste, daß sie existierte. Ich würde es begrüßen, wenn auch in den nächsten Jahren solche Schwerpunkte im Bereich der allgemeinen Phantastik gesetzt werden würden. Das dürfte nicht nur mir erhöhten Lesegenuß bescheren, sondern auch die deutsche zeitgenössische Literatur deutlich weiterbringen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen