Sonntag, 18. Dezember 2011

Heidrun Jänchen / Armin Rößler (Hrsg.) : Die Audienz


Heidrun Jänchen / Armin Rößler (Hrsg.) : Die Audienz
Story-Anthologie
Wurdack-SF 16
Wurdack-Verlag 2010



Frank W. Haubold : Die Audienz
Ein irdischer Botschafter hat eine Audienz bei den technologisch überlegenen Tanuat, um sie um Hilfe gegen die kriegerischen Mareen zu bitten.
Diese Geschichte habe ich nicht verstanden, auch die philosophischen Aussagen blieben mir unklar. Ich habe zwar den groben Verdacht, daß es in dieser Story um den Gottesbeweis geht, kann das aber nicht im Detail qualifiziert belegen.

Bruna Phlox : Hör auf die Wahrsagerin, Nishka
Das Leben spielt sich praktisch nur noch im Netz ab. Marktforschungsinstitute manipulieren Menschen, um Antworten auf irrelevante Fragen zu bekommen. Erzählt wird die Geschichte von Nishka, London und Bernard, eine klassiche Dreiecksbeziehung.
"Alles ist besser als die Realität." Ein Satz aus der Story, der den gesamten Inhalt wiedergibt. Von daher nichts Neues, ein eher ausgelutschter Plot. Doch auch wenn Setting und Plot standartisierte Versatzstücke sind, ist die erzählerische Wucht, mit der diese Story den Leser erreicht bemerkenswert. In kurzen Sätzen, oftmals Satzbruchstücken, stellt der Autor eine düstere Welt der Zukunft in groben Umrissen dar, die der Leser dann selbst mit Inhalten seiner eigenen Erfahrungswelt füllt. Bemerkenswert, ein Highlight des Wettbewerbs.
Wie man am letzten Satz vielleicht merkt, habe ich mich hier selbst aus dem CapCo 2009 plagiiert. Die Siegergeschichte des rein online geführten Wettbewerbs wurde in dieser Anthologie zum ersten Mal abgedruckt - verdient wie ich beim erneuten Lesen feststellte.

Bernhard Schneider : Sarah
Ein Mann betreut seine durch einen neuen Virus vollständig gelähmte Tochter und versucht, ein Heilmittel zu finden. Obwohl sie seit Monaten tot ist.
Bernhard Schneider gelingt hier ein Glanzstück, indem er die gesamte Geschichte aus dem Blickwinkel des leicht wahnsinnig gewordenen Protagonisten in Ich-Erzähler-Form geschrieben hat. Sehr eindringlich wird die Hoffnung geschildert, erst in den letzten Zeilen die Vergeblichkeit und der Wahnsinn aufgedeckt. Eine brilliante Story, die man nur weiterempfehlen kann.

Regina Schleheck : Ein Schiff wird kommen
Juliet Forrester soll Zeitsprünge an Bord eines interstellaren Luxusliner untersuchen. Doch offenbar befindet sie sich in einem Film, der auf einem Kurzfilm-Festival der 70er von Merlina Mercouri betrachtet und hin- und hergespult wird.
Unstimmig und akausal. Aber stilistisch hervorragend geschrieben und sehr spannend inszeniert.So wird aus einer in sich nur eingeschränkt konsistenten Geschichte eine lesenswerte SF-Story über parallele welten.

Christian Weis : Ausgespielt
Der Detektiv Ben Kozak soll auf Luna den ausgebüxten Sohn eines Honkonger Industriellen aufspüren. Dieser betrügt zusammen mit seiner Freundin die Spielcasinos. Wie sich im Lauf der Ermittlungen herausstellt, waren beide Opfer illegaler Chipimplantate und können gegenseitig ihre Gedanken lesen.
Eine neue Kozak-Story. Vordergründig ein reiner krimi im Stil der klassischen Geschichten von Asimov. Durch viele kleine Bemerkungen und den Grundplot an sich wird "Ausgespielt" aber zu einer deutlichen Kritik an hemmungsloser Aufrüstung, um den "Höher-Weiter-Schneller"-Anforderungen der modernen Gesellschaft zu genügen.
Christian Weis hat mehrere Stories mit dem Detektiv Kozak geschrieben, u.a. in der c't, ich warte immer noch auf die überarbeiteten Fassungen im Wurdackschen Sammelband.

Nadine Boos : Finja-Danielas Totenwache
In der Zukunft ist es möglich, die eigenen Gedanken und Erinnerungen auf einen Klon zu übertragen. Man erhält so eine scheinbare Unsterblichkeit. Daß diese Vorgehensweise fragwürdig ist zeigt Nadine Boos am Beispiel Finja-Danielas, aus deren Totenwache beide, Klon und Originalkörper, hervorgehen.
Eigentlich nicht weiter bemerkenswert, ein Standard-Thema mit einer Standard-Philosophie und einer Standard-Auflösung. Auch die flüssige Erzählung und der gelungene Stil sind zwar bemerkenswert, aber nicht weiter herausragend. Jedoch hat die Autorin die SF-Elemente der Story gekonnt in den Kontext einer klassischen Verwandten-Mischpoke gestellt und lästert die Verwandten-Archetypen extrem gelungen der Reihe nach ab. Lesenswert, für Zyniker und Realisten ein absolutes Muß.

Christian Günther : Der geborgte Himmel
Die unterstützung für das Mars-Projekt wird eingestellt, die Mars-Siedler alleine gelassen. Nach Jahren des Dahinvegetierens auf dem kargem Mars-Boden entscheiden sich auch die letzten Standhaften, zurück zur Erde zu fliegen. Aber dort sind die Menschen durch eine vom Mars eingeschleppte Seuche mehr oder minder ausgestorben.
Gut geschrieben, lesenswert, aber nicht pointiert genug. Das, was der Autor zu sagen hat, kommt beim Leser nicht präzise genug an. Dabei hat Christian Günther hier einen sehr schönen Gegenentwurf zu Heinleins optimistischem "Green Hills of Earth" geschrieben. Vielleicht würde eine etwas längere Form dieser Kurzgeschichte gut tun. In jedem Fall : Lesen !

Karla Schmidt : Lebenslichter
Die Welt in Naher Zukunft. Die Alten werden ausgegrenzt, sie sind finanziell nicht mehr tragbar. In dieser Situation kämpft Mara zusammen mit ihrem Vater um ihr gemeinsames Überleben.
Eine Geschichte aus dem Brillen-Universum, in dem auch "Erlösungsdeadline" (--> Hinterland) spielt. Für mich der Höhepunkt dieser Anthologie. Bissig, voll zorniger Anspielungen auf herrschendes Unrecht ist diese melancholisch-optimistische Story ein Genuß. Auch hier spielt die Brille, mit der man Gefühle identifizieren kann, eine signifikante Nebenrolle, Veronique Malé tritt ebenfalls als Nebenfigur auf. Diese Near-Future-Geschichten sind mit das Beste, das ich in der letzten Zeit an deutschsprachiger SF gelesen habe und sind insbesondere deutschen SF-Fans empfohlen. Letzteres deshalb, da die Story sehr deutsch ist und sich der heutigen deutschen Gesellschaft und Politik ganz speziell annimmt. Ebenso wie Nebra von Thomas Thiemeyer wird ein großer Teil des Charmes dieser Geschichten vom Erkennen des eigenen Umfelds bei in Deutschland lebenden Lesern generiert. Mehr davon !

Armin Rößler : Phönix
Auf einem fernem Planeten löscht Hal Johnssen Brände, die regelmäßig in den dortigen Wäldern aufflackern. Nach der Religion der dortigen Ureinwohner bewirken diese Brände die Wiedergeburt von Pflanze, Tier und Mensch. Deshalb mischen sich radikale Umweltschützer ein.
Nicht pointiert genug, der Autor nimmt weder für die eine noch die andere Sichtweise deutlich genug Stellung. Auch wenn die Exotik klassisch Rößlersch ist, bleibt die Story Mittelmaß.

Arnold H. Bucher : Der Erste Roboter
Für den neuen Präsidenten soll der Erste Roboter neu initialisiert werden. Er widersetzt sich.
Langweilige uninnovative 08/15-Roboter-Story. Wer Roboter-Stories lesen will, ist besser mit Isaac Asimov bedient - trotz des Alters seiner Geschichten.

Andreas Flögel : Lod, Lad, Chine
Lod Sidario klärt einen Mord in einer Welt, in der sich die Menschen nicht persönlich begegnen. Eigentlich kann es nur ein Roboter gewesen sein ..
Geklaut ! Von Isaac Asimovs Caves of Steel bzw. The Naked Sun. Jedenfalls der Grundplot inklusive Whodunit. Aber sehr schön aus der Perspektive der Humanophoben erzählt, gelungen geklaut. Wie man auf eBay sagt : Gerne wieder.

Kai Riedemann : Ich töte dich nach meinem Tod
In einer Virtuellen Realität hackt ein Mann biometrische Daten und tötet die Menschen, zu denen sie gehören. Ein alter Bulle und seine junge Partnerin versuchen, den Mord an diesem Massenmörder aufzuklären.
SF-Krimi-Standard, gut erzählt, aber nicht innovativ und im Endeffekt nicht weiter bemerkenswert. Aber spannend und flüssig lesbar mit leichten Anklängen an die Schwarze Serie.

Heidrun Jänchen : Kamele, Kuckucksuhren und Bienen
Forscher landen auf einem fremden Planeten und finden eine planetenweite selbstregulierende Ökologie vor. Die dann auch auf die Fremden von der Erde reagiert.
Eine naturwissenschaftliche SF-Story, die das "Science" in "Science Fiction" stark betont. Heidrun Jänchen hat in letzter Zeit mehrere dieser naturwissenschaftlichen Stories geschrieben, die sich dem klassischen SF-Begriff immer stärker annähern. Und auch wenn ich so etwas in ähnlicher Form schon früher oft gelesen habe, hat es doch Spaß gemacht, einen solchen Klassiker in der modernen Form wieder zu lesen.

Jakob Schmidt : Auslese
Krebs ist ein Ergebnis des organischen Computers "Menschheit", der jetzt von Aliens, den Fleischengeln, ausgelesen wird. Die vom Krebs befallenen Menschen sterben dabei. Anja wehrt sich.
"Nicht aufgeben !" Das ist die Botschaft dieser Story, die Jakob Schmidt dem Leser rüberbringt. Sich bis zum Letzten gegen Leute wehren, die einen ausbeuten wollen. Und sich nicht der allgemeinen Lethargie anpassen. In deutlichen Worten mit einer nicht sympathischen, aber bis zu ihrem Tod kämpfenden Protagonistin stellt der Autor diese kämpferische Philosophie dar. Dabei hat er die allgemeine Ausbeutung der heutigen Gesellschaft nur ins Extrem in eine SF-Umgebung übersetzt, hat die wirtschaftliche Ausbeutung der heutigen Zeit überspitzt in eine biologische der Zukunft transportiert. Lesenswert !

Andrea Tillmanns : Hitze
Die Gesellschaft ist am Zusammenbrechen, das Klima extrem heiß geworden. Eine Rentnerin kämpft um ihr Überleben.
Gut geschrieben, in jedem Fall lesenswert, aber doch ziemlich uninnovativ. Könnte allerdings zusammen mit einigen anderen Stories von Andrea Tillmanns eine erdrückende Beschreibung der Gesellschaft nach dem Kollaps werden.

Karsten Kruschel : Ende der Jagdsaison auf Orange
Die Siedler von Orange wehren sich gegen die Ausbeutung durch den Matsushita-Klan. Ihnen kommt das Öko-System zu Hilfe.
Nach den Vilm-Geschichten erzählt Karsten Kruschel hier eine weitere Geschichte, in der die Ökologie der eigentliche Protagonist ist. Und hier wie dort schützt sie den Menschen vor Ausbeutung. Es wird interessant sein, zukünftige Stories und Romane dieses Autors daraufhin zu lesen, ich bin sicher, er hat noch lange nicht sein Pulver verschossen. In jedem Fall aber ist diese Story wieder eine besonders gelungene, ein Paradebeispiel für SF, wie sie sein sollte. Ein hervorragender Abschluß dieser Anthologie.


Fazit : Wieder einmal eine gelungene SF-Anthologie aus dem Wurdack-Verlag, die leider den Vergleich mit "SF X." blablabla .... Nein ! Eine gelungene SF-Anthologie aus dem Wurdack-Verlag. Genauso wie ihre Vorgänger so gelungen, daß man dieses extrem hohe Niveau von Stil, Inhalt und Form bereits als Standard der deutschen SF goutiert. "SF X." war nur der Anfang einer Reihe von herausragenden Anthologien, die von dem Lektorat unter der Ägide von Heidrun Jänchen und Armin Rößler auf einem gleichbleibend hohem Niveau gehalten wurden. Nicht alle Geschichten haben mir gefallen, das kann man oben nachlesen. Aber selbst die in meinen Augen schlechteste Story ist meilenweit von dem Niveau deutscher Kurzgeschichten der 80er, wie sie etwa in den deutschen Ausgaben von "Isaac Asimovs Science Fiction Magazin" zu lesen sind. Von daher meine Bitte an Lektoren und Herausgeber : Verwöhnt mich weiter und hört nicht auf mein gelegentliches Gebrummel. Ich nörgle da auf einem Niveau knapp unter den Wolken. Und das ist auch gut so.

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