Montag, 25. Mai 2015

Christian Endres : Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen



Christian Endres : Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen
Atlantis 2015
Hardcover mit Lesebändchen, ca. 346 Seiten, 16,90 €
alternativ auch als Paperback und eBook erhältlich
Titelbild : Timo Kümmel


In diesem London ist alles anders: Der Premierminister heißt James Moriarty, über der Stadt kreisen die Drachen der königlichen Luftwaffe, die Faerieboten zischen durch die Straßen, und im Untergrund treiben die Zwerge aus König Oberons Reich den Bau des Schienennetzes voran. Im East End meuchelt Jack the Ripper außerdem leichte Elfendamen, während seine Sympathisanten offen zur Gewalt gegen alle Feenländer aufrufen. Die Hauptstadt des Empires ist ein Pulverfass, und ausgerechnet jetzt wird das legendäre Königsmacherschwert Excalibur aus dem British Museum gestohlen! Sherlock Holmes und Dr. John Watson versuchen, die verzauberte Klinge zu finden, damit London zwischen Intrige und Verrat nicht noch tiefer im Chaos versinkt …
Klappentext

Es passiert ja wirklich selten. Mir in den letzten Jahrzehnten jedenfalls nicht. Und auch vorher wirklich nur vereinzelt. Aber als ich diesen Klappentext las, war ich sofort fasziniert von der Geschichte und wollte das Buch unbedingt sofort lesen. Was ich dann auch in der Folgewoche gemacht habe. Kompliment an Guido Latz und Christian Endres, dieser Klappentext hat es in sich.

Und er beschreibt auch exakt das Szenario, das Christian Endres mit diesem Mix aus Alternate History, Phantastik und Sherlock-Holmes-Setting vor dem Leser ausbreitet. Genial ausbreitet, wie ich hinzufügen möchte, denn er setzt den mündigen und kenntnisreichen Leser voraus. Den Leser nämlich, der weiss, wer Sherlock Holmes, John H. Watson und James Moriarty in den Geschichten des Sir Arthur Conan Doyle war. Den Leser, der die Sagen von Oberon und Titania, von Artus und Mordred, der Lady vom See und vom Pendragon kennt. Dies alles setzt Endres voraus, erklärt es nicht weiter und fabuliert munter vor sich hin. Leser wie ich, die diese Sagen in- und auswendig kennen, genießen diesen Stil, da man (ich zumindestens) die ganzen anderen Geschichten präsent hat und in den Subtext deutlich mehr hineininterpretiert, als dort eigentlich steht.

Endres erzählt also munter vor sich hin. Aber so was von munter, es ist wirklich unglaublich. Mit kurzen, aber präzisen Pinselstrichen bringt er nicht nur Holmes und Watson zum Leben, sondern führt den Leser auch wunderbar in ein London ein, in dem es von Magie, Elfen, Feen und Trollen nur so wimmelt. Es ist wirklich unglaublich, wie schnell man sich in dieser Umgebung als Leser heimisch fühlt. Dieses Feeling kenne ich sonst nur bei meinen Lieblingsschriftstellern (Herbert, Heinlein, Spinrad, um nur drei zu nennen), doch auch hier versinkt man als Leser ganz schnell in diese Gesellschaft des pseudo-viktorianischen Londons. Christian Endres hat es schon einmal geschafft, mich für seine Holmes-Pastiches zu begeistern. Aber "Das Uhrwerk des Todes" ist zwar gut, "Die tanzenden Drachen" dagegen brilliant bis genial.

Insbesondere deshalb, weil Endres hier den Brückenschlag zwischen einer wunderschön erzählten Geschichte auf der einen und einem politisch-sozial-ökonomischem Statement auf der anderen Seite gelingt. Und zwar derart, daß selbst ich, der ich die hier proklamierte Meinung nicht oder nicht vollständig teile, bei einigen Punkten zustimmend genickt habe. So muß Social Fiction sein, kritisch, mit einem klaren Standpunkt, und trotzdem so differenziert, daß man eben diesen Standpunkt mindestens versteht, wenn nicht sogar teilt. Dabei – und das hat mir ganz außerordentlich gefallen – bleibt Christian Endres vollständig dem Motto "Show, don't tell !" verpflichtet, an keiner einzigen Stelle lässt er einen seiner Protagonisten auch nur rudimentär lamentieren, jedes einzelne seiner Statements zur Flüchtlingsthematik und zum Asylrecht hat er als Handlungselement in seinen Roman eingebaut. Und egal wie man zu diesen Thematiken steht, man wird Endres mindestens in Teilen Recht geben müssen. Mindestens, wie gesagt.

Was mir auch besonders gefallen hat, war der Rücksprung auf die klassische Holmes-Figur. Christian Endres schildert Holmes so, wie Arthur Conan Doyle ihn erdacht hat. Dies gelingt ihm, ohne die modernen Interpretationen beispielsweise des Teams Benedict Cumberbatch / Martin Freeman in Frage zu stellen. Was meiner Meinung nach daran liegt, daß der Endres'sche Holmes eine Mischung aus der von Basil Rathbone und Benedict Cumberbatch gespielten Figur ist. Ganz im Gegensatz zu Watson, hier zeigt sich, daß die Interpretation von Martin Freeman eine Art ultimative Darstellung des John H. Watson ist, auch Endres lehnt seine Figur an die Freemansche Darstellung an. Wobei dies natürlich eine Henne/Ei-Diskussion ist, Christian Endres ist als Holmes-Kenner eher den klassischen Texten verpflichtet, doch für nicht so tief in diesen Geschichten steckenden Leser dürften diese Vergleiche ein guter Anhaltspunkt sein.

Insgesamt ein wirklich schönes Buch, das ich uneingeschränkt weiterempfehlen kann. Wer sich selber ein Bild machen will, der sei auf die Kurzgeschichte "Sherlock Holmes und die Königin der Affen" verwiesen, die es gratis als eBook-Download gibt :


Im Auftrag der Krone reisen der Meisterdetektiv Sherlock Holmes und sein treuer Freund und Chronist Dr. John Watson nach Gibraltar, um das Verschwinden der Berberaffen zu untersuchen. Einer alten Legende zufolge stehen die Affen schließlich in direktem Zusammenhang mit dem Ende der britischen Herrschaft über die Insel ...

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