Mittwoch, 9. Dezember 2015

Exodus #33



Exodus #33
Herausgeber : René Moreau, Heinz Wipperfürth und Olaf Kemmler
Exodusverlag 12.09.2015
Originalausgabe
Hochglanz-Magazin, 110 Seiten, 12,90 €
Titelbild : Timo Kümmel »Sphärentänzer«
ISSN 1860-675X

Inhalt

Stories
Tobias Tantius: »Der Letzte seiner Art«
Christian Weis: »Der Zwillingsfaktor«
Christian Endres: »Out of Memory«
Victor Boden: »Das rote Gras«
Michael Tillmann: »Agnosticca — Planet der leeren Säulen«
Boris Koch: »Ein glücklicherer Ort«
Olaf Kemmler: »Expedition nach Eden«
Florian Heller: »Die Mär vom güldenen Nasentuch«
Arno Behrend: »Friendly Faces«
Fabian Tomaschek: »Interrogation«

Lyrik
Jens Ehlers: »Ah Alph Re Rhe Ri Ehl Xo Dus Fict Io Pi Pha Lanx Scie Oh On Meg Tro I« – eine lyrische Antwort auf den Essay »Retro-Futurismus oder: Die Antiquiertheit der Moderne« aus EXODUS 30.

Galerie
Christian Endres: »Timo Kümmel: Ferne Gestade«
»Galerie« ... annähernd 20 Farbseiten mit Werken des Künstlers Timo Kümmel

Comic und Karikaturen
Kostas Koufogiorgos: »KuFoMIKS« (neue Comic-Episoden: »Roboriots« und »Vampirobot«)sowie die gewohnt bissigen Karikaturen in unseren Abteilungen »Mal am Puls der Zeit bleiben!« oder »Weltraumforschung aktuell«


Es ist jedesmal wieder ein Genuß, das neue Magazin in die Hand zu nehmen. Optisch ist es einfach sehenswert, jeden Cent des gar nicht so geringen Preises wert. Aber auch inhaltlich echt heavvy, wobei mich persönlich die Stories am meisten interessieren. Gehen wir gleich in medias res:

Tobias Tantius : Der Letzte seiner Art
Ein Taxifahrer ohne Handy und Datenbrille erlebt, wie die Menschen aneinander vorbeileben.
Mein lieber Autor, das Thema hast Du verpatzt. Aber so was von. Die Geschichte plätschert einfach nur so dahin, ohne Höhepunkte, ohne Tiefen, ohne geistiges Engagement. Dabei ist der Taxifahrer-Ansatz ebenso wie die einzelnen Episoden ziemlich präzise gewählt. Sie illustrieren in gelungener Art und Weise die Vereinsamung digital vollvernetzter Flachpfeifen. Mit etwas mehr Mühe und nur einem bißchem mehr persönlichem Engagement innerhalb der Story wäre diese preiswürdig. Wirklich schade drum, das hätte eine DSFP-Nominierung werden können, da fehlt wirklich nicht mehr viel zu. Ich warte dann einmal gespannt auf die nächste Story von Dir.

Christian Weis : Der Zwillingsfaktor
Erik und Jana sind Zwillinge, über mutierte und nicht mehr kontrollierbare Nanobots miteinander verbunden. Als Jana versucht, ein Kind zu bekommen, laufen diese Bots Amok und töten sie. Kurz darauf stirbt auch Erik bei einer UNO-Mission im Sudan.
Äääähh...ja ! So, aber genau so muß eine Kurzgeschichte, die vor unkontrollierbarer Technik warnt, sein. Im Stil der großen Brunner-Romane schreibt Weis leise und unprätentiös eine wirklich gelungene Kurzgeschichte aus der Nahen Zukunft. Sehr schön seine Begründung für das Nanobot-Problem, sehr ausgefeilt die Szenarios, in denen seine Charaktere agieren, elegant die Extrapolationen heutiger Technik. Ist auf meiner Nominierungsliste für den DSFP.

Christian Endres : Out of Memory
In naher Zukunft lagern die Menschen einen Teil ihrer Erinnerungen in die Cloud aus. Doch wenn sie nicht mehr bezahlen können, werden diese Daten gelöscht. So ergeht es auch Liz Diamond, einer Pornodarstellerin. Sie sucht Hilfe bei Sam Spade, einem Detektiv...
Der namenlose Protagonist heisst natürlich nicht Sam Spade. Aber der verkürzte, Ein-Satz-Stil der ersten Hälfte führt unweigerlich zu einer solchen Assoziation. Sehr gewöhnungsbedürftig, fand ich, dieser Teil, in dem ein kurzer Satz einer Gedankenassoziation entspricht und praktisch auch einen Absatz darstellt. Aber das Sam-Spade-Thema, in dem eine geheimnisvolle Blondine in das Büro eines Schnüfflers hereinspaziert und damit eine phantastische Geschichte beginnt, ist wirklich schön umgesetzt. Auch die Idee einer Cloud-Gefahr, die nicht wirklich von der Hand zu weisen ist und in der einen oder anderen Weise auch stattfinden wird, hat mir persönlich ausnehmend gut gefallen. Aber für meinen Geschmack nimmt sich Endres nicht genug Zeit für den zweiten Teil, ich finde, das Thema – so wie Endres dies angelegt hat – sprengt den Rahmen einer Kurzgeschichte. Ich hätte da gerne länger und mehr von gelesen.

Victor Boden : Das rote Gras
Raumfahrer kommen nach ihrer Rückkehr zur Erde nicht mehr mit der Realität zurecht.
Nett geschrieben, sehr stimmungsvoll, bedauerlicherweise effektiv inhaltslos.

Michael Tillmann : Agnosticca – Planet der leeren Säulen
Auf Agnosticca leben Agnostiker, keine Atheisten.
>>Agnostizismus (altgriechisch ἀγνοεῖν a-gnoein „Unwissen“) ist die philosophische Ansicht, dass Annahmen – insbesondere theologische, welche die Existenz oder Nichtexistenz einer höheren Instanz, beispielsweise eines Gottes, betreffen – entweder ungeklärt oder grundsätzlich nicht klärbar sind.<< >>Atheismus (von altgriechisch ἄθεος átheos „ohne Gott“) bezeichnet im engeren Sinne die Überzeugung, dass es keinen Gott und keinerlei Götter gibt.<< Soweit die Wikipedia. Michael Tillmann arbeitet diesen Unterschied in seiner Kurzgeschichte schön heraus, erinnerte mich an Brian Stablefords Daedalus-Geschichten. Hier wie dort waren die Planeten nur Aufhänger, die SF nur Vehikel zur Diskussion eines oftmals ziemlich nicht-trivialen philosophischen Themas. Hat mir Spaß gemacht, die Story, ist auf jeden Fall auf meiner erweiterten DSFP-Liste. Sehr schön auch die Zusammenstellung aller Tillmanschen Planeten-Stories am Ende, die hätte ich gerne gesammelt als Buch.

Jens Ehlers : Ah Alph Re Rhe Ri Ehl Xo Dus Fict Io Pi Pha Lanx Scie Oh On Meg Tro I
Leute, lasst das. Weder könnt ihr Lyrik schreiben, noch sie bewerten. Diese zwei Seiten sind absolute Platzverschwendung.

Boris Koch : Ein glücklicherer Ort
Dr. Vincent A. O. Felix ist ein Genie und baut eine Zeitmaschine, um sich selbst zu vervielfachen und die Welt deshalb zu einem besserem Ort zu machen.
Herr-lich ! Mit spitzer Feder und einer gehörigen Portion Gehässigkeit zeigt Boris Koch rechten und linken Extremisten auf, wie wenig sie dafür geeignet sind, die Welt tatsächlich zu verbessern. Denn jeder, der von sich glaubt, daß nur seine Meinung die einzig wahre ist, endet wie Felix in absoluter Selbstüberschätzung und produziert eine sterile, nichtssagende und monotone Welt. Hat mir wirklich außerordentlich gut gefallen.

Olaf Kemmler : Expedition nach Eden
In ferner Zukunft herrschen 23 Unsterbliche über die Menschen der Erde. Doch die Untertanen des Genetikers rebellieren...
Eine sehr politische und sehr soziologische Geschichte. Kemmler gelingt es, ein wirklich gelungenes antikapitalistisches Lehrstück in die Form einer fast schon voraussehbaren SF-Action-Geschichte zu packen. Extrem lesenswert, für meine erweiterte Nominierungsliste notiert.

Florian Heller : Die Mär vom güldenen Nasentuch
Ein König verliert sein Nasentuch und fängt deshalb einen Krieg an.
Diese Inhaltsangabe trifft nicht annähernd diese geniale politische Geschichte von Florian Heller. Das macht aber auch nix, denn diese sollte man schon selber lesen und ich möchte keinem das Amusement beim ersten Lesen dieser Story nehmen. In bitterbösester satirisch-ironisch-zynischer Form erzählt Florian Heller hier ein zeitloses Märchen, das von seinen politischen Aussagen her ebenso wuchtig und gewaltig ist wie "Des Kaisers neue Kleider". Eine derartig wortgewaltige und meiner ganz persönlichen Meinung auch brilliante poltische Geschichte habe ich schon lange nicht mehr gelesen, in dieser Bissigkeit, die in Teilen sehr wohl an Boshaftigkeit grenzt, tatsächlich noch nie. Dieser Schrei nach Freiheit, nach Gleichberechtigung der Bürger, dieser Widerstand gegen Möchtegernpotentaten wie Merkel, Gauck, Petry, Roth, Wagenknecht, Gabriel und Maas ist es wert, wieder und wieder veröffentlicht zu werden.
Trotz dieser Begeisterung werde ich die Geschichte nicht (selbst) für den DSFP nominieren. Dies liegt daran, daß ich persönlich sie als herausragende politische Satire, aber eigentlich in keinster Art und Weise als phantastisches Werk verstehe. Mein Kompliment an die EXODUS-Redaktion, hier die Grenzen des phantastischen Genres in der aktuellen Ausgabe zu sprengen. Gerne wieder.

Arno Behrend : Friendly Faces
Carina ist beruflich im Filmbusiness und erstellt virtuelle Hintergründe für die Greenscreen. Aber auch im realen Leben sieht sie die Realität durch die Google-Datenbrille...
Eine sehr deprimierende Geschichte, in der Arno Behrend die heutige "Generation Smartphone" in die Zukunft extrapoliert. Angenehm präzise ohne falsche Sentimentalitäten erzählt er von den Irrungen und Wirrungen einer jungen Frau in und durch die zunehmende Virtualisierung. Gelungene Social Fiction der gehobenen Art.

Fabian Tomaschek: Interrogation
Sonja verhört einen Gefangenen, der wichtige Informationen über die Rebellen hat. Im Laufe des Verhörs wird sie immer unmenschlicher...
Gut geschrieben, aber im Endeffekt zu vorhersehbar. Ich sehe dies als Parabel auf Guantanamo, aber es weiss eigentlich jeder denkende Mensch, daß die dortige Einrichtung Scheiße ist und wenig bringt. Fabian Tomaschek sollte zu neuen Ufern aufbrechen und aus dem Thema Neues herauskitzeln, der Standard ist literarisch nicht mehr ausreichend.

Ein gemischtes Ergebnis also, qualitativ mit vielen Spitzen nach oben. Ich fand diese Ausgabe sehr gelungen, denn auch wenn ich einige Sachen nicht mochte, lohnt sich der Kauf doch allein von den hier positiv kommentierten Geschichten her.

Wobei ich allerdings noch gar nicht auf einen wichtigen Teil von "Exodus" eingegangen bin : Die Graphiken. Ich stehe ja auf Innenillustrationen und "Exodus" hat hier viele verschiedene Künstler der unterschiedlichsten Stilrichtungen versammelt. Mein persönlicher Geschmack ist eher ...pulpig, so daß ich die wirklich empfehlenswerten Bilder und Graphiken nicht wirklich qualifiziert würdigen kann. Aber mir persönlich haben sie eigentlich alle gefallen. Hervorheben möchte ich an dieser Stelle die Einführung in die Bildergalerie. Hier stellt Christian Endres viel besser als ich es könnte die Wucht des Schaffens von Timo Kümmel dar. Hat Spaß gemacht, das vor den Bildern zu lesen.

Insgesamt ein unbedingt empfehlenswertes Hochglanz-Magazin, das wieder einmal Lust auf mehr gemacht hat.

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